Sex oder Liebe? Der konstruierte Irrtum

es ist sex – doch was ist es noch …?

Im 20. Jahrhundert wurde das Wort dann „salonfähig“, hatte aber zunächst den Beigeschmack des Unerwünschten: Man sprach entweder gar nicht oder höchst ungern über Sex. Die Kirche versuchte lange Zeit, einen Gegensatz zwischen „Sex“ einerseits und „Liebe“ andererseits zu konstruieren. Die Bücher „Nicht Sex, sondern Liebe“ (1966) und „Liebe contra Sex“ (1967) wurden überall empfohlen und verbreitet.

Der Begriff „Sex“ hat im Deutschen eine sehr kurze Geschichte. Er stammt von den Römern, kam von dort in die romanischen Länder und wanderte dann in englischsprachige Länder, wo er zunächst nur in der Bedeutung „Geschlecht“ gebraucht wurde:  „The opposite sex“ ist das „entgegengesetzte“ oder „andere“ Geschlecht. In Deutschland war dieser Begriff  gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch völlig unbekannt. (1) Lediglich in der Gelehrtensprache wurde das Wort „Sexus“ (Geschlechtlichkeit) oder „Sexualis“ (das Geschlechtliche betreffend) verwendet.

Meinungen ohne Hintergrund

Alles, was damals gesagt und geschrieben wurde, hielt weder der Praxis stand noch war es die göttliche oder weltliche Wahrheit. Jeder, der irgendwie verliebt war, ob Frau oder Mann, wusste oder ahnte jedenfalls, dass dieses Gefühl von der Natur geplant war, ob man es nun Liebe nennen dufte oder nicht.  Junge Leute, an die sich die genannten Schriften richteten,  erlebten die Liebe körperlich, auch wenn sie nicht „vollzogen“ wurde. Es ist völlig unmöglich, die spezielle Liebe zum anderen Geschlecht nicht sexuell zu erleben, weil sich das Gehirn einen Dreck darum schert, was „erwünscht“ ist. Das offenkundig als „edler“ empfundene Gefühl „Wahrer Liebe“ ist von ganz anderer Art, und es bezieht sich zumeist, wenn nicht ausschließlich, auf Paare, die bereits sehr lange zusammen sind.

Die Frage, wie schnell wir uns verlieben können, wird vor allem in Frauenzeitschriften diskutiert. Dabei fällt auf, dass der Begriff dort ausgesprochen schwammig verwendet wird.

Eine typische, verwirrende Ansicht aus den USA (2)

Es gibt weder eine verbindliche Antwort noch einen Zeitrahmen, aber ich finde, wenn Leute sagen, dass sie sich nach vier oder acht Wochen verliebt haben, dann reden sie über Lust! Wir können Lust und Leidenschaft auf den ersten Blick haben, aber es dauert länger, jemanden wirklich kennenzulernen und herauszufinden, wer er ist und wie sich beide zusammenfinden. Liebe ist definitiv etwas längerfristig.

Bustle, näheres Am Ende des Artikels

In Deutschland schrieb die Zeitschrift “Freundin” (3) dazu:

Dennoch gibt auch die Expertin zu, dass man nach wenigen Wochen in der Regel eher von einer gegenseitigen Begierde sprechen kann. Dieses Gefühl kann nämlich ziemlich schnell aufkommen, während man für wirkliche Verliebtheit bis hin zu richtiger Liebe den Partner wirklich kennenlernen muss. Ein langer Prozess.

Freundin, am Ende des Artikels näher bezeichnet

Auch wenn man etwas ständig wiederholt, wird es nicht wahrer: Bei all diesen „Betrachtungen“ wird behauptet, „Lust“ (Begierde), „Verliebtheit“ und „richtiger Liebe“ seien völlig verschiedene Gefühle, die in einem mystischen Prozess entwickelt würden.   

Fachleute: Nichts wissen, viel reden

Die Frage, „Wie lange dauert es, bis das Gehirn aus der neutralen Betrachtung des Gegenübers zum Entschluss kommt, Verliebtheit zu erzeugen“ und damit Sex zu ermöglichen, ist damit völlig offen. Es wäre interessant, wenn uns diese „Fachleute“ einmal sagen würden, was ihrer Meinung nach in den „vier bis acht Wochen“ geschieht, bevor die „echte“ Verliebtheit einsetzt.

Sehr merkwürdig ist dabei, dass sich diese Sichtweise auf diejenigen „Fachleute“ beschränkt, die ohne jegliche Beweise für ihre Thesen auftreten.  An anderer Seite glauben „gewöhnliche Sterbliche“, man können sich „innerhalb eines Wimpernschlags“ verlieben, es würde maximal eine Stunde dauern oder aber einige Tage oder Wochen. Übrigens sind auch Wissenschaftler (freilich keine Psychologen oder Paarberater) davon überzeugt, ein Mensch könne sich  gegebenenfalls in 0,2 Sekunden verlieben. (4)

Versuchen wir einmal, die Wahrheit herauszufiltern, und hören wir zunächst einen Moment einer jungen Dame zu, die mir diese Geschichte erzählte:

Ich bin nur zu haben, wenn mich jemand zu einem Abendessen einlädt. Nicht weil ich es genieße, mit ihm zu essen, sondern weil ich dann genügend Zeit habe. Bei der Vorspeise sehe ich mir den Typ genau an, beim Hauptgericht stelle ich ein paar Fragen und versuche, seine Qualitäten herauszufinden. Und beim Dessert überlege ich dann, ob ich mit ihm schlafen könnte – aber dann hat mein Körper bereits gesprochen. Sagt er ja, sage ich auch ja.

Private Quelle

Aus dieser Geschichte einer selbstbewussten Endzwanzigerin können wir viel mehr entnehmen, als aus jeder wissenschaftlichen Abhandlung. Wir lernen von der Frau, dass sie sich Zeit nimmt, wie viel Zeit sie benötigt, wie sie abwägt und dass sie letztendlich ihren Instinkte entscheiden lässt. 

Kästchendenken fruchtet nicht

Sex oder Liebe? Lust oder Leidenschaft? Verliebtheit oder Begierde? Glauben die Moralisten, Kleriker und Psychologen  tatsächlich, wir würden unsere Emotionen in Kästchen vorsortiert haben und sie  geregelt hervorbringen?  

Ich denke nicht, dass diese Leute die genannten  Strukturen für sich selbst beanspruchen, weil sie völlig unrealistisch sind. Verliebtheit ist nicht dies oder das, sondern immer „dies und das“ – und genau genommen sollen sogar zwölf Gehirnregionen daran beteiligt sein. Wenn ich mir nun vorstelle, dass am Ende auch noch  Denk- und Entscheidungsprozesse dazu kommen, die nicht allein von der Begierde gesteuert werden, dann weiß ich, was ich von den vielen „klugen“ Autoren zu halten habe.

Was Sex und Liebe wirklich ist

Nun, ich fasse das Gesagte zusammen:

  • Das Gehirn hat von Natur aus mehrere Möglichkeiten, Begierde, Lust, Verliebtheit und Verbundenheit hervorzurufen.
  • All die vorgenannten Begriffe stammen von Menschen, die das Fühlen und Denken interpretieren. Das Gehirn verfolgt seine Ziele aber recht konsequent unabhängig von Interpretationen.  
  • Verliebtheit (Geilheit, Lust, Sinnlichkeit) kann in wenigen Millisekunden erzeugt werden. Die Annahme, das Gehirn würde dafür Wochen oder gar Monate brauchen, ist Unsinn.  Das Gehirn plant keine Emotionen, es setzt sie frei.
  • Ob Sex ohne Liebe funktioniert oder nicht, ist eine Frage der Definition der Begriffe und der persönlichen Sichtweise. Es gibt keinen Beweis dafür oder dagegen.
  • Auch die Frage, ob „Liebe“ den Wunsch nach Sex verstärkt  oder Sex den Wunsch nach Liebe im Sinne von Gemeinsamkeit  fördert, ist nicht geklärt. 
  • Wer Sex und Liebe als Gegensätze ansieht, muss sich vorwerfen lassen, die Zusammenhänge zu verleugnen.  Da sowohl die Lust wie auch die Verliebtheit und sicher ein Dutzend anderer Gefühle mit dem Sex zusammenhängen, wäre es ebenso dreist wie dumm, die Gegensätze zu betonen.

Warum Sex und Liebe zusammenhängen

Nach all diesen Aussagen kann ich folgendes als relativ verbindlich schreiben:

Sex (sexuelle Lust oder auch Begierde) beinhaltet in jedem Fall eine Ausprägung von Liebe. Der in Skandinavien oft gehörte Ausspruch: „es war nur Sex“ heißt nicht, dass dabei keine Gefühle im Spiel waren – nur, dass keine Beziehung bestand oder besteht.

Der erste und eigentliche Sinn der anfänglichen Verliebtheit, die ihrerseits ein Erfolg es Gehirns bei der Umsetzung der Begierde ist,  besteht darin, wundervollen Sex zu ermöglichen. Sex ist dabei unter normalen Umständen nicht „nur Sex“, sondern eine wohltuende Melange sinnlicher  Gefühle, deren genauen Inhalt nur die Beteiligten kennen. 

(1) Recherchen in Lexika gegen Ende des 19. Jahrhunderts. (2) Bustle nach Aussagen von Aimee Hartstein (3) freundin.de, (4) Forschung von Prof. Stephanie Ortigue. Bilder aus einem Skizzenbuch (1948) von Ernst Hansen.

2 thoughts on “Sex oder Liebe? Der konstruierte Irrtum”

  1. Dem Artikel fehlt die Instanz: “Ich”. Suggeriert wird, das Ich sei das Gehirn. (Kennen wir schon, halt materialistische Sichtweise. Ebenso arbeitete er gestrig nach “richtig” und “falsch”. Der Autor macht nicht klar auf welcher Ebene er die betrachtung. Emphirisch gesehen, sieht halt manches anders aus. Und eine subjektive Wahrheit ist eben auch eine Wahrheit, bezogen auf das Subjekt. Ansonsen ist das Thema eben nicht mal kurz zu behandeln und dafür hat er es von seiner Sicht ganz gut gemacht

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