Ich will und muss einen Satz vorausschicken: „Bisexualität“ ist die psychologisch-weltanschauliche Festschreibung eines Zustandes. In dieser Form begegnet er uns überall, wo von „sexueller Ausrichtung“ die Rede ist. Ob es einen solchen „Zustand“ überhaupt gibt, ist fragwürdig. Er wurde überhaupt erst in der „Kurzen Geschichte der Heterosexualität“ populär und dient hauptsächlich dazu, die „ambivalente Sexualität“ eingruppieren zu können.
Lustvoll angezogen werden
Unzweifelhaft ist hingegen, dass eine mehr oder minder große Anzahl von Menschen auch vom gleichen Geschlecht angezogen wird. Und dies, obgleich die sexuelle oder erotische Grundorientierung auf das andere Geschlecht abzielt.
Was bedeutet dies? Vor allem, dass wir nach heutigen Normen eine „Grundorientierung“ haben sollten, die wir in weitaus überwiegender Anzahl als „heterosexuell“ bezeichnen. Und doch haben wir alle die Möglichkeit auch das gleiche Geschlecht zu bewundern, erotisch zu verehren oder sexuell zu begehren.
Das heißt nicht, dass wir es tun müssen, sondern nur, dass diese Möglichkeit in uns schlummert und je nach Lebenseinstellung und sich bietender Gelegenheit auch verwirklicht werden könnte, falls wir neugierig genug sind.
Studien an Frauen: Bisexuelle Lüste gehören zum Leben
Die meisten Studien gleichgeschlechtlichen Lüsten, die auf hinreichend verwertbaren Fakten beruhen, finden bei Männern zu etwa 20 Prozent erotische Träume, die sich auf Männer beziehen. Frauen hingegen träumen zu gegen 40 Prozent von der sexuellen Begegnung mit einer Frau.
Entsprechende Untersuchungen in einem Testlabor ergaben bei Frauen eine Sensation: Während nur ein sehr geringer Teil von ihnen angab, sexuell von Frauen erregt zu sein, erregt zu sein, ergaben Messungen bei der sexuellen Erregung Werte von deutlich gegen 75 Prozent. An diesen Themen haben unter anderem Lisa M. Diamond, Dr. Meredith Chivers und Dr. Gerulf Rieger gearbeitet – als verlässlich gilt vor allem das, was Dr. Chivers dabei herausgefunden hat:
Frauen scheinen in ihren sexuellen Reaktionen nicht zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden, zumindest nicht die heterosexuellen Frauen … (für sie) spielte das Geschlecht keine Rolle. Sie haben auf die (sexuelle) Aktivität reagiert.
Nach der NYT
Erstaunlicherweise kam dabei auch heraus, dass es nicht, wie früher oft vermutet, die ganz jungen Frauen sind, die mit ihrer Lust experimentieren und dabei – wie selbstverständlich – auch gleichgeschlechtliche Zärtlichkeiten austauschen. Lisa M. Diamond meint dazu:
„Ich habe mit der Zeit viele Interviewpartner gehabt, die … plötzlich, spät im Leben, romantische und erotische Gefühle entdeckten, die vollkommen anders waren als alle bisherigen.“
Book of Love
Nicht alle diese Gefühle sind „eindeutig“ bisexueller Natur, auch wenn sie auf nachgewiesener sexueller Erregung beruhen. Das mag daran liegen, dass der Geschlechtsakt „als solcher“ sinnliche Begierden auslösen kann. Bekannt ist ja, dass heterosexuelle Männer von pseudo-lesbischen Szenen oder weiblichen Zungenküssen angetan sind.
Bisexuell zu träumen heißt nicht, bisexuell zu sein
Zu bedenken ist auch, dass nicht jede gedankliche, sinnliche oder gar körperliche Erregung in intime Körperkontakte mündet. Auf diesen Unterschied wurde in der ersten der hier erwähnten Studien hingewiesen.
Ganz generell gilt:
- Erträumt oder fantasiert ist noch nicht gestaltet.
- Gestaltet ist noch nicht ausgeführt.
- Ausgeführt ist noch nicht wirklich „als lustvoll empfunden“.
- „Als lustvoll empfunden“ ist noch nicht verinnerlicht.
- Und verinnerlicht ist noch lange keine Orientierung.
Die merkwürdige Etikettierung sexueller Klassen
Das Merkwürdige an unserer heutigen Zeit ist ja, dass wir uns darüber Gedanken mache sollen (oder gar müssen), ob wir uns zur Gruppe der „Heteros“ oder der „Homos“ zählen lassen wollen. Das war nicht immer so, und selbst die Psychotherapie können wir dafür nicht verantwortlich machen: Die Einteilungen, Einstellungen und Vermutungen des 19. Jahrhunderts deuteten schon lange darauf hin, dass die „mannmännliche Liebe“ vorn allen anderen sexuellen Lüsten abgesondert werden sollte. Im Zuge dieser Bestrebungen kam es dann später zu der angeblich „wissenschaftlich“ begründeten Trennung in „Homosexualität“ und „Heterosexualität“ und der neuen Zone der Bi-Sexualität.
Seither ist eine neue Definitions-Wut entstanden, die darauf besteht, dies oder jenes zu „sein“ und das damit das für sich selbst eroberte Territorium zu verteidigen.
Bisexualität in neuer Sichtweise: bunte Blüten
Untergegangen ist dabei die Möglichkeit, durchaus beide Geschlechter sinnlich zu begehren, sei es in sinnlicher Bewunderung, blühenden Fantasien oder in „kleinen Fluchten“.
Gerade diese Variante entfaltet allerdings derzeit eine eine neue Blütenpracht: mit „fließenden Definitionen“, und außerhalb der Definitionen durchaus auch mit spontan auftretenden erotischen Gelüsten. Vorerst schient es eine „Sache der Frauen“ zu sein, aber die meisten Autoren erwarten, dass Männer ähnliche verborgene Gelüste haben.
Für Dich – die lockere Sicht
Übrigens können wir die Bi-Sexualität viel lockerer sehen, wenn wir dies bedenken:
Wenn Sexualität nicht ausschließlich auf die Reproduktion beschränkt ist und wir die Muster weglassen, die wir verinnerlicht haben, dann kann jeder Erwachsene bei jedem anderen Erwachsenen Lust empfinden.
Und die Lüste von ihr auf sie oder von ihm auf ihn sind keine Homosexualität, sondern zunächst einmal nicht als sinnliche Gedanken im ständigen Fluss der Begierde. Wer also „sie und ihn begehrt“, der ist keinesfalls schon „Bisexuell“ oder „Homosexuell“, sondern im Grunde nur begierig, den Horizont der Lüste zu erweitern.
Wer Interesse an mehr Informationen hat, sollte “Die verstecke Lust der Frauen” lesen. (Buch, deutsch, erschienen 2014) oder “Straight” (Buch, englisch, Boston 2012)