Als ich mich entschloss, noch einmal grundlegend über die Liebe zu schreiben, wollte ich zunächst dort ansetzen, wo sich das Wohlgefühl der Nähe mit der sinnlichen Begierde verbindet: in der Pubertät. Doch weil ich wirklich bei den Graswurzeln beginnen wollte, musste ich weiter zurückgehen – und daraus ist dieses erste Kapitel entstanden.
Die Liebe der frühen Jahre
Wie ihr in einem meiner Grundlagenartikel lesen könnt, ist der Begriff der Liebe seit der Zeit des Bildungsbürgertums im „eigentlichen“ Sinne stets mit der Liebesromantik, der Sinnlichkeit und der Sexualität verbunden. Dennoch werden zahllose gefühlsbezogene Zustände als „Liebe“ bezeichnet, allen voran, das Gefühl, „angenommen“ zu sein. Der bekannte Autor und Psychotherapeut Erich Fromm (1) will wissen, dass es bei der Liebe darum geht, die
Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis der Einsamkeit herauszukommen.
Egal, was von diesem theatralisch anmutenden Satz hält: Der Mensch will üblicherweise nicht einsam sein, will angenommen werden, will Nähe spüren. Außerhalb der „Wissenschaft“ sagt es der Schlagerdichter (2) ähnlich:
Der Mensch an sich ist einsam
und bleibt verlassen zurück.
Sucht man sich nicht gemeinsam
ein kleines Stück von dem Glück.
Wohlan – lasst uns zunächst über das Streben nach Zuneigung, Liebe oder einfach Glück sprechen.
Wie wir die frühe Liebe empfinden
Folgen wir einer Theorie über die Liebe im Kindesalter, und beginnen wir sie mit einem Zitat von Victor Hugo (aus „Les Misérables“,3):
Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu werden, geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr; trotz seiner selbst.
Es heißt oft, ohne dass ich den Beweis dafür erbringen könnte, dass sich die Menschen im Erwachsenenalter nach der Art der Liebe entwickeln, die sie in d er Kinderzeit empfingen, und dabei unterscheidet man zunächst zwei Gruppen:
- Diejenigen, die rückhaltlos geliebt werden, weil sie existieren.
- Jene, die geliebt werden, wenn sie einen Dienst verrichten.
Bei näherem Nachdenken und einigen Gesprächen fielen mir noch zwei weitere Gruppen ein: Diejenigen, die sich niemals darum gekümmert haben, ob sie geliebt werden oder nicht, und jene, die behaupten, niemals wirklich Liebe erfahren zu haben.
Ich denke, wir müssen über zweierlei sprechen: Erstens existieren alle diese Gruppen niemals in Reinform – es handelt sich, wie so oft, um ein Modell. Der tatsächlich existierende Mensch hat zumeist Erfahrungen mit mehreren Personen in unterschiedlichen Situationen. Am sehr einfachen Beispiel: Die Mutter mag ihren Sohn vorbehaltlos lieben, die Großtante belohnt ihn hingegen mit Liebe, wenn er brav ist, die Grundschullehrerin dann, wenn er gute Noten schreibt.
Zweitens kann die Einstufung etwas für die eigene Liebesfähigkeit aussagen oder auch nicht. Mit anderen Worten: Wer rückhaltlos geliebt wurde, muss nicht zwangsläufig selbst schrankenlos lieben, und wer sich Liebe durch Wohlverhalten erkaufen musste, wird später nicht zwangsläufig zu einem „Tauschhändler“ der Liebe.
Was dieser Artikel für dich bedeuten könnte
Üblicherweise fragen Leser von Ratgeberliteratur an solchen Stellen immer: was ist nun besser?
Ich rate euch, diese Frage nicht zu stellen. Fragt lieber, was anders ist. Und überlegt euch, wie es bei euch war, wann ihr von dem einen oder dem anderen profitiert habt und wann ihr diese oder jene Grundlage verflucht habt.
Zum Schluss dieses Abschnitts: Ich schreibe euch dies, um mein Versprechen einzulösen, bei euch selbst zu beginnen. Die gesamte Theorie, die ich hier ausbreite, ist nichts wert, wenn ihr sie nicht anhand eures eigenen Lebens überprüft und gegebenenfalls Konsequenzen daraus ableitet.
Zitate:
(1) Erich Fromm „Die Kunst des Liebens“ zuerst 1956 erschienen
(2) Von Charly Niessen, interpretiert von Hildegard Knef.
(3) Le suprême bonheur de la vie, c’est la conviction qu’on est aimé; aimé pour soi-même, disons mieux, aimé malgré soi-même.